Von Feelein und Rehlein, Hauptsache lieb

 © Till Hülsemann

Von Salah Naoura

„Mein Vater ist sauer. Deshalb schreit er mich an, deshalb haut er mir eine runter, deshalb kann er mich heute nicht riechen“, schrieb Susanne Kilian 1972 im NEIN-Buch für Kinder (Beltz & Gelberg). Solche Sätze sind im heutigen deutschsprachigen Kinderbuch kaum noch anzutreffen. Bloß nicht anecken, bloß keine Erwachsenen (denn vornehmlich die kaufen ja die Bücher für den Nachwuchs) zu unsympathisch und Kinder zu unerzogen wirken lassen – dies scheint, so jedenfalls bestätigen es viele meiner KollegInnen, das derzeitige Credo vieler Kinderbuchverlage zu sein. Dort werden Figuren bei der Prüfung von Manuskripten einer strengen Verhaltenskontrolle unterzogen. Omas müssen lieb sein, Eltern stets ihr Bestes geben und nicht krank werden, Kinder sollten weder schimpfen (keine Kraftausdrücke bitte!) noch kotzen – Geschichten mit Figuren, die zu unfreundlich, kritisch oder gar traurig wirken, werden entsprechend geglättet oder abgelehnt. Einzig das Klischee der trutschigen Lehrerin mit Halbmondbrille und Angst vor Mäusen, ein Überbleibsel aus den Fünzigern, wird auch heute noch gern (besonders auch im Kinderfilm) bemüht. Lehrerfiguren sind eine Ausnahme und dürfen gerne weiterhin nervig sein, das stört vorlesende Eltern nicht.

„Die Erwachsenen in Ihren Büchern kommen ja ganz schön schlecht weg“, höre ich häufig von Eltern, die meine Bücher kennen. Oft klingt es wie eine geschmunzelte Ermahnung. Wie „na, na, na!“ Dann wundere ich mich. Erstens finde ich nicht, dass sie schlecht wegkommen. Sie haben Probleme und sind nicht perfekt, wie das bei Menschen eben so ist. Aber sie machen, genau wie die Kinderfiguren in meinen Geschichten, eine Entwicklung durch, immer zum Guten, weil ich für Kinder Hoffnungsvolles erzählen möchte. Der Glaube an positive Veränderung ist wichtig, sonst rafft sich niemand auf, es zu versuchen. Was neu ist beim kinderliterarischen Erzählen, ist die derzeitige Scheu der Verlage, Redaktionen, Produzenten vor Konflikten – für uns Kinder der Siebziger ein seltsames Phänomen. Denn was soll man erzählen, wenn alles Friede, Freude, Eierkuchen ist? Von Feelein und Rehlein, von immer nur lieben Omas, die Apfelkuchen backen und ihre Enkel herzen? Von Eltern, die perfekt zwischen Beruf und Familie jonglieren? Nichts gegen Feen oder Rehe, aber Geschichten mit Menschen aus Fleisch und Blut sind heutzutage deutlich schwerer unterzubringen. In einem meiner Bücher hat die überforderte Mutter ihre Mutter (also die Oma des Protagonisten) ins Altersheim verfrachtet – doch die Oma findet sich damit nicht ab, kommt zurück und rächt sich mit einer Intrige. Sie ist nicht nett, sie ist ein Biest, jedoch aus gutem Grund. („Hilfe! Ich will hier raus!“, Dressler Verlag, Hamburg 2014) Ein Filmproduzent, der sich für diesen Stoff interessierte, wollte die Mutter um jeden Preis netter machen, auf keinen Fall durfte sie „so böse“ sein, ihre eigene Mutter loswerden zu wollen. Nur funktionierte die Geschichte so leider nicht mehr …

„Das Nichts breitet sich aus“, schrieb Michael Ende 1979 in seiner Unendlichen Geschichte. Aufs Kinderbuch bezogen könnte man präzisieren: das Nichts der Harmlosigkeit. Denn wo es keine Konflikte gibt, gibt es auch nichts zu erzählen. Und Bösewichte sind ohnehin immer die spannendsten Figuren. Das Unugunu, der Gurkenkönig, Madame Medusa, rücksichtslose Eltern, blöde Brüder, skrupellose Geschäftsleute – mit solchen Fieslingen und ihren armen Opfern haben wir als Kinder mitgefiebert.

Heutzutage fragen mich altkluge Kinder bei meinen Lesungen: „Finden Sie es kindgerecht, dass die Kinder in Ihren Büchern fluchen, hm?“ Ja, finde ich. „Und denken Sie, dass es richtig ist, dass in Ihrem Buch das Wort Kondom vorkommt?“ Ja, denke ich. Und ich denke: Oje, müssen diese Kinder in ihren Familien jedes Mal zwei Euro in ein Sparschwein stecken, wenn sie fluchen? Und hoffentlich erklärt ihnen irgendjemand, was ein Kondom ist, anstatt sie vor solch „schlimmen Wörtern“ beschützen zu wollen.

Ich sehne mich (erzählerisch) in die Siebziger zurück! Weg mit der Scheu vor Konflikten und schwierigen Themen. Denn Kinder stehen heute mehr unter Druck denn je. Deshalb brauchen sie Geschichten, in denen Kinder den Mund aufmachen und sich wehren. In denen sie Strategien entwickeln, mit Druck und Konflikten umzugehen. Daher, werte Verlage: nur Mut! Und Schluss mit Lieb-lieb-lieb.

© Salah Naoura

In die Jahre gekommen: das „NEIN-Buch für Kinder“ (Beltz & Gelberg, Weinheim 1972)

3 Gedanken zu „Von Feelein und Rehlein, Hauptsache lieb

  • 29. April 2019 um 14:15
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    Lieber Salah,
    danke für diesen klugen Text! Du sprichst mir aus der Seele!
    Liebe Grüße, Maja

  • 30. April 2019 um 15:31
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    Schön gesagt. Ich musste ein bisschen lachen und ein bisschen weinen . Als weitere trutschige Bösewichte fallen mir Bibliothekarinnen ein, die sich weiterhin in Büchern und Filmen verbittert räuspern, in freudlos grauer Bluse und mit zu straffem Dutt. Ich selbst hab noch nie so eine getroffen– im Gegenteil – aber der Prototyp überlebt.

    • 30. April 2019 um 16:27
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      Ja, stimmt, die sind mir im echten Leben auch schon häufiger nicht begegnet!

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