Von Goldrausch und geraspelten Schlümpfen

Von Ilke S. Prick (Text) und Ulrike Jensen (Fotos)

Ob es wohl noch weit sei, fragten wir uns im vergangenen Herbst, als die Welt noch im gewohnten Modus lief und Workshops möglich waren. Die Namen der S-Bahn-Stationen, die wir passierten, waren uns nahezu unbekannt, und die Gegend vorm Waggonfenster wurde grün und grüner. Unser Ziel war Lichtenrade. Einer dieser Bezirke, in die man schon immer mal fahren wollte, nur irgendwie … Hm. Doch nun waren wir auf dem Weg, die wunderbare Illustratorin und Spreeautoren-Kollegin Ulrike Jensen und ich. Gemeinsam wollten wir in Lichtenrade eine Werkstatt anbieten, in der Kinder ihr eigenes ABC gestalten können: das Kiez-ABC.

Welche Lieblingsbuchstaben finden wir im Alltag? Wie können wir sie künstlerisch einfangen? Welche Geschichten entwickeln sich daraus? Schreiben, Drucken und Gestalten sollten Hand in Hand gehen, so unser Konzept. Der Lortzingclub, eine Kinder- und Jugendeinrichtung in Lichtenrade, war schnell mit im Boot, und auch dem Berliner Projektfonds hatte unsere Idee so gut gefallen, dass er das Ganze förderte. So standen wir also da, im Grünen, vor einer traumhaften Villa. Allerdings ohne den in anderen Stadtteilen so typischen Kiez drumrum, dafür aber mit einem riesigen Garten ums Haus und jeder Menge versteckter Buchstaben darin.

Wie Forscher schwärmten die Kinder aus, in den Händen weiche Bleistifte, um die Buchstaben-Funde in ihren Heften zu dokumentieren: das O im Fahrradreifen, eine Reihe von XXXen im Jägerzaun, ein geschlängeltes e im Gartenschlauch auf dem Rasen. Mit etwas Phantasie fanden sie in den Sträuchern und Bäumen, auf dem Spielplatz nebenan und im Wald auch noch den Rest des Alphabets. Zu den gefundenen Buchstaben suchten wir passende Lieblings- und typische Lichtenrade-Wörter: L wie Lortzingclub, H wie Hausnummer 22, F wie Feuerwehr, W wie Wald. Und in null Komma nichts entstand daraus die erste gemeinsame Geschichte: Halloween im Lortzingclub.

Als Ulrike Jensen anschließend Farben und Werkzeuge auspackte, starteten eifrige Debatten. Was ist ein wirklich schöner Buchstabe? Welches Wort passt dazu? „Das sieht aus wie geraspelte Schlümpfe“, war der einhellige Kommentar, als die ersten blauen Späne fielen und die Spachtel ein Z mit Zähnen, ein M mit Möwe und Meise oder ein V mit Vogelflügeln ins Stempelgummi kerbten. Und während die Farbrolle dann über ein H mit Hut fuhr, entwickelte sich gleichzeitig die Idee vom H, das so scheu ist, dass es am liebsten allein zu Hause bleibt. Nur manchmal macht es in der Geschichte Akrobatik mit den H-Freunden, Schulter auf Schulter – und dann auch gestempelt in leuchtenden Farben als Pyramide auf schwarzem Zeichenkarton.

Mit dem Öffnen der letzten Farbflasche brach dann ein wahrer Rausch los: der Gold-Rausch. Farbrollen tropften, Finger glitzerten, Stempel wurden auf Postkarten, Kartons, Papierbögen gedruckt. „Wir haben genug Gold für alle!“, riefen die Kinder begeistert, und auch die erfundene Geschichte zur Hand mit H bekam so endlich ein Happy End: Der Protagonist, der ein goldenes Händchen für Schönschrift hat, erhält am Schluss der Geschichte einen Preis in Gold für seine schöne Handschrift.

Doch was kann man machen mit so vielen Bildern und Geschichten? Natürlich das, was vermutlich alle Künstler*innen gern tun: eine Ausstellung organisieren und eine Lesung veranstalten. Und so trafen wir uns am Ende des Projektes in der Lichtenrader Stadtteil-Bibliothek Edith Stein, hängten die Kunstwerke auf und probten das Lesen der Geschichten. Schließlich wurde ja Publikum erwartet. Eltern, Geschwister, Besucher der Bibliothek, die Crew des Lortzingclubs. Alle waren eingeladen, viele kamen. Und als die erste Welle des Lampenfiebers überwunden war, die Kunstwerke bewundert und die Geschichten beklatscht wurden, leuchteten die Gesichter der jungen Künstler*innen mindestens ebenso wie die goldenen Stempel auf den Bildern. Und wir? Wir zogen glücklich über die gelungene Werkstatt unseren Hut mit H vor den Kindern und sagten: „Chapeau!“