Auf Bildungs(politik)reise in Finnland

Von Salah Naoura

Im September dieses Jahres wurde mir recht spontan die Ehre zuteil, den Bundespräsidenten und seine Frau als Teil der Delegation beim Staatsbesuch nach Finnland zu begleiten. Jenny Haukio, die finnische First Lady (die auch dichtet), hatte den Wunsch geäußert, mit Präsidentengattin Elke Büdenbender und Kinderbuchautoren beider Länder über Lesekrise und Bildungspolitik zu sprechen – auch bei den Finnen, man glaubt es kaum, lesekriselt es in letzter Zeit, trotz guten Abschneidens bei der PISA-Studie. So kam es dazu, dass ich mit Timo Parvela („Ella“), Dieter Hermann Schmitz („Die spinnen, die Finnen“) und den beiden First Ladies im Literaturhaus Helsinki über eben diese Themen sprechen durfte.

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich war enttäuscht. Die Redezeit war auf eine Stunde begrenzt, von der die Gastgeberin des Literaturhauses, angeblich unsere Moderatorin, mindestens zwanzig Minuten für sich beanspruchte, um ausführlich ihre Arbeit vorzustellen. Dann waren wir an der Reihe. Timo Parvela propagierte eine stärkere Verknüpfung von Buchprojekten mit den neuen Medien. Ich sagte, man müsse in unserem verplanten Alltag erst mal wieder Zeiten des „Müßiggangs“ schaffen, wenn man möchte, dass Menschen lesen. Und Dieter Schmitz war dann doch nicht an der Reihe, sondern wurde übergangen.

Das Reisen in einer Kolonne ist gewöhnungsbedürftig und die Aufenthalte sind eng getaktet. Das hastige Verlassen und Besteigen der Fahrzeuge nimmt (jedenfalls gefühlt) mehr Zeit in Anspruch als die eigentlichen Termine. Inhaltlich Gehaltvolles darf man daher nicht erwarten.

Was ist mein Fazit dieser Reise? Erstens, dass hierarchische Gefüge immer schlecht sind, um zielorientiert zu sprechen. Wenn man nicht auf Augenhöhe diskutiert und – wie im Fall unserer Moderatorin – die Notwendigkeit empfunden wird, sich vor hohen Gästen zu profilieren, kommt wenig dabei raus. Zweitens, dass die Finnen wirklich Sinn für Humor haben. Alle, mit denen ich sprach. Als Frank-Walter Steinmeier sein Namensgedächtnis verließ und er mich dem finnischen Präsidenten mit einem lapidarenWie heißen Sie noch mal?“ vorstellte, sagte ich meinen Namen selber auf und erklärte dazu, dass ich häufig für einen Finnen gehalten würde, obwohl ich zur Hälfte Araber bin. Niinistös Antwort: „Na, das ist ja fast dasselbe.“ Drittens, dass die Finnen in Sachen Bildungspolitik wirklich begriffen haben, worum es geht: „Nach unserer Auffassung sind wir alle für unsere Kinder zuständig“, sagt Tarja Aurell von der Deutschen Schule Helsinki. „Nicht nur die Eltern oder nur die Lehrer. Die ganze Gesellschaft. Weil Kinder unsere Zukunft sind.“

Eine gesamtgesellschaftliche bildungspolitische Initiative bräuchten wir auch in Deutschland. Und das geht nicht, ohne die Länderhoheit zu beschneiden und den Bund stärker zu beteiligen. Folgerichtig hat das Parlament nun endlich eine Änderung des Grundgesetzes beschlossen, das die Lockerung des sogenannten „Kooperationsverbotes“ ermöglichen wird, um eine schnellere Digitalisierung der Schulen zu erreichen. Zukünftig darf der Bund nun nicht nur Kommunen, sondern auch die Länder in Sachen Bildung finanziell unterstützen. Bleibt zu hoffen, dass dies ein erster Schritt zur Lösung der viel wichtigeren Probleme ist: Dringender als PCs brauchen wir an den Schulen mehr Stellen für Lehrer, Psychologen, Sozialarbeiter und Sonderpädagogen. Gelder für gesundes Schulessen. Ein funktionierendes System zur Mitfinanzierung der Sanierung maroder Schulen durch den Bund. Und vor allem endlich ein bundesweit gleichwertiges Abitur und eine Entwirrung der Methodik, damit Kinder, wo auch immer sie in Deutschland aufwachsen, wieder richtig sicher Lesen und Schreiben lernen. Und die „Lesekrise“? Kinder spiegeln das Verhalten der Erwachsenen und brauchen Vorbilder. Wenn wir möchten, dass sie mit Begeisterung lesen, müssen wir selber mit Begeisterung lesen, vorlesen und gute Geschichten erzählen. Und wir müssen uns Zeit dafür nehmen.

Matti und Sami und die verflixte Ungerechtigkeit der Welt, Beltz und Gelberg 2019, Coverillustration von Barbara Jung