Der Unsinn mit dem „Tellerrand“

© Till Hülsemann

Von Salah Naoura

Jüngst führte mich eine Lesereise zum ersten Mal nach Luxemburg, nach Düdelingen, wohin mich eine kinderliteratur-engagierte Lehrerin eingeladen hatte. Wir sprachen viel über die Kinderbuchbranche und wie man heutige Kinder für Geschichten begeistert. Zu meiner Überraschung (und großen Freude) hob sie die Bedeutung der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur besonders hervor. Deutschsprachige Bücher stellten, sagte sie, ein ganz eigenes Genre dar – eine oft wunderbare Mischung aus realen und fantastischen Elementen, wodurch Kinder zum einen vor der Haustür abgeholt, zum anderen in neue Welten entführt würden, in denen sich Althergebrachtes spiegeln, neu deuten und bewerten lasse.

Schwer zu sagen, ob dies wirklich ein typisches Merkmal deutschsprachiger KJL ist (das wäre eine literaturwissenschaftliche Untersuchung wert) – jedenfalls ist es (und das verblüffte mich) genau das, was ich selber mag: ein reales Setting, in dem das Geschehen irgendwann ins Irreale abhebt. Solche Bücher seien so wichtig, dass in der luxemburgischen Lehrerausbildung sogar dazu angehalten werde, im Deutschunterricht möglichst keine Übersetzungen zu lesen.

Dermaßen viel Wertschätzung deutschsprachiger Kinderbücher hat hierzulande Seltenheitswert – in jüngerer Vergangenheit war unter den deutschen Gralshütern der Kinderliteratur eher die Rede davon, deutschsprachige Autorinnen und Autoren könnten nicht so gut schreiben wie englischsprachige oder skandinavische. Auch unser Jugendliteraturpreis bescheinigt dem deutschsprachigen Kinder- und Jugendbuch Jahr für Jahr seine angeblich mangelnde Qualität, indem er in diesen Sparten fast nur Übersetzungen nominiert und auszeichnet.

Der Wunsch der Mehrheit unserer Autorinnen und Autoren nach mehr Sichtbarkeit (zum Beispiel durch Einführung einer deutschsprachigen Sparte des DJLP) wird abgetan als Ruf der ewig Gestrigen, die immer noch nicht begriffen hätten, wie wichtig in unseren globalisierten Zeiten der „Blick über den Tellerrand“ sei. Was für ein Unsinn. Wer dies heute noch als eine Notwendigkeit beschreibt, hat nicht begriffen, dass es den Teller nicht mehr gibt. Kindern und Jugendlichen ist die globalisierte Welt längst eine Selbstverständlichkeit. Sie findet vor der Haustür statt und in der Schule. Über andere Kulturen liest man zudem überall oder man fährt hin. Heutige Kinder reisen erstaunlich viel und kommunizieren weltweit.

Um der aktuellen „Lesekrise“ beizukommen, brauchen wir einen neuen Fokus auf die deutschsprachige Literatur für Kinder und Jugendliche. Auf Geschichten, die ihnen jene Welt spiegeln, in der sie sich tagtäglich bewegen. Denn nur wer sich gut kennt und eine selbstsichere Identität hat, kann den anderen und ihrer Andersartigkeit gegenüber neugierig, offen und tolerant sein – Grundvoraussetzung für ein friedvolles Zusammenleben in einer pluralistischen Gesellschaft.