2019 – Die fehlenden Bücher

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Von Kathrin Köller

Am Anfang dieses Artikels standen jede Menge Anfragen bei Pressevertreterinnen. Ich fragte nach Büchern, in denen Menschen aus dem LGBTIQ-Spektrum auftauchen. Bücher, in denen schwule, lesbische, bi- und pansexuelle Menschen zum Personal der Geschichte gehören, ebenso wie Menschen, die Trans sind, genderfluid oder sich jenseits von männlich und weiblich definieren. Ich suchte Bücher, in denen der ältere Bruder seinen Freund mit nach Hause bringt, ein non-binäres Kind Fußball spielt, oder eine Jugendliche sich in ihre beste Freundin verliebt.

Mindestens 10 Prozent der Menschen in Deutschland verorten sich im LGBTIQ-Spektrum, der Anteil unter Jugendlichen ist eher noch höher. Alle Kinder und Jugendlichen haben in ihrem Umfeld Menschen, die nicht hetero sind oder auch trans, non-binär oder agender. Ich wollte mir anschauen, wie sich diese gesellschaftliche Realität in den knapp 9000 Kinder- und Jugendbüchern des Jahres 2019 abbildet. Meine große Sorge war, nicht alles lesen und würdigen zu können. Ich begann frühzeitig mit der Recherche. Die Pressevertreterinnen recherchierten ebenfalls. Meistens „sah es 2019 nicht so gut aus“, aber sie konnten mir aus vergangenen Jahren ein paar Bücher ans Herz legen. Aber 10 Prozent der Bevölkerung sind doch kein Trendthema und ich ging davon aus, dass in jedem Jahr Kinder- und Jugendbücher erscheinen müssten, in denen die gesellschaftliche Realität abgebildet wird.

Wer da ist, den gibt es!
Die Figuren, die das Kinderbuch 2019 bevölkern, sind erschreckend wenig vielfältig. Es gibt so gut wie gar keine Geschichten, in denen jemand schwul, lesbisch oder trans ist. Nun lässt sich argumentieren, dass Genderfragen und sexuelles Interesse im Kinderbuch ja auch noch keine Rolle spielen sollten. Aber im Kinderbuch tauchen ja auch Hetero-Eltern oder die große Schwester mit ihrem Freund auf. Bei denen geht es auch nicht um ihre Sexualität. Aber allein durch ihr Auftauchen wird klar, es gibt diese Lebensform. Tauchen ausschließlich Charaktere auf, die der Hetero-Cis-Norm entsprechen, vermittelt sich, dass es nichts anderes gibt. Und das ist das eigentlich Gefährliche, das Kindern und Jugendlichen, die nicht dieser Norm entsprechen, das Leben schwer macht.

Wie die Welt größer wird
Einige wenige Kinderbücher aus dem Jahr 2019 bezeugen, dass es auch anders geht. Ein großartiges Beispiel ist der komplett in E-Mails verfasste Kinderroman An Nachteule, von Sternhai (Hanser, ab 10, Eselsohr 09/9, S. 24) von Holly Goldberg Sloan und Meg Wolitzer. Im Zentrum stehen zwei 12-jährige Mädchen, deren Väter sich ineinander verliebt haben und die beschließen, ihre Töchter müssten jetzt gemeinsam ins Feriencamp und wie Schwestern werden. Natürlich haben die Väter ihre Rechnung ohne die Kinder gemacht, was zu viel Chaos und großem Vergnügen beim Lesen führt. Das Schöne ist, es geht wirklich um die beiden Töchter, ihre Abenteuer, inklusive Hundebisse, Hochseilgärten und Höhenangst. Aber gleichzeitig macht dieses Setting die Welt der Leser größer, dadurch dass es normales Familienleben erzählt, eben nur mit schwulen Vätern. Ein Page-Turner für Kinder ab 10 und ihre Eltern.

„An Nachteule von Sternhai“ von Holly Goldberg Sloan & Meg Wolitzer.
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz, ab 10, Hanser Verlag, München 2019

Dass ein Superheld aus Hero City, der mit einer geheimen Mission beauftragt ist, auch trans sein kann, beweist Salah Naoura mit Superflashboy und das Geheimnis von Shao-Shao. Wunderbar erfrischend ist, dass hier kein Outing nach langer Leidensgeschichte erzählt wird. Dieses Buch ist eine klassisch abgefahrene Superheldengeschichte mit Spannung, Abenteuer und vielen Freunden, von denen einer eben trans ist. Salah Naoura macht hier mit Bravour vor, dass inklusive Geschichten überhaupt nicht schwer oder problembeladen sein müssen. Geht doch.

„Superflashboy und das Geheimnis von Shao-Shao“ von Salah Naoura.
Mit Illustrationen von Kai Schüttler, ab 8, Rowohlt Verlag, Hamburg 2019

Was im Jugendbuch geht
Im Jugendbuch wird es etwas besser, was das Thema sexuelle Orientierung betrifft. Sunil Mann erzählt mit Totsch die kurze, knackig geschriebene Geschichte von Olaf, der sich in Jannick von gegenüber verliebt hat. Olaf hadert nicht mit seinem Schwulsein. Eigentlich ist er ganz lebensweise. Bloß, wenn er sich Jannick nähert, dann stürzen irgendwie die falschen Wörter aus ihm heraus. Eine schöne, temporeich und leichtfüßig erzählte Liebesgeschichte.

„Totsch“ von Sunil Mann. Ab 12, da bux Verlag. Werdenberg (Schweiz) 2019

Ein Happy End ist erst der Anfang ist die Fortsetzung von Nur drei Worte (Carlsen 2016, ab 14), der Coming-Out-Geschichte von Simon und Bram, die 2017 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Man kann das Happy End aber auch ohne Kenntnis des Vorgängerbandes lesen, denn dies ist Leahs Geschichte. Leah, die mit ihrer Clique im letzten Jahr an der High School ist, kurz bevor sie alle an verschiedene Universitäten ausschwärmen. Jetzt die Freunde zu verlieren wäre das Schlimmste. Aber irgendwie hat Leah immer wieder den Moment verpasst, den anderen zu gestehen, dass sie bi ist. Und es ist verdammt schwer, sich einen Freund vom Leib zu halten, von dem alle, inklusive er selbst, denken, dass er doch so gut zu ihr passt. Kann sie sich stattdessen einlassen auf ein Mädchen, das doch eigentlich hetero ist? Becky Albertalli hat eine High-School-Geschichte geschrieben, die mit faszinierender Leichtigkeit existenzielle Themen berührt, wie Gruppenzwang, Rassismus und die Schwierigkeiten, in einer Hetero-Welt als Mädchen, das auf Mädchen steht, nicht unter die Räder zu kommen.

„Ein Happy End ist erst der Anfang“ von Becky Albertalli.
Aus dem Englischen von Ingo Herzke, ab 14, Carlsen Verlag, Hamburg 2019

Wie Fantasy Liebe erzählt
In der Fantasy werden vermehrt auch Geschichten homosexueller Liebe zumindest mit erzählt. Beispielhaft lässt sich hier der erste Band der neuen Kingdoms of Smoke-Reihe nennen: Die Verschwörung von Brigant. Das Königreich Brigant ist eine brachial-patriarchal organisierte Gesellschaft, in der der König selbst seiner Tochter Catherine keine Freiheiten erlaubt und sie strategisch ins Königreich Pitoria verheiraten will. Neben Catherines kreativer Widerständigkeit und ihrer Hetero-Liebesgeschichte wird die Geschichte des Diebes Edyon erzählt, der sich als schwuler Prinz entpuppt. Sein Love Interest ist allerdings überhaupt nicht out und eine sehr ambivalente Figur. Das macht ihre Beziehung, auch wenn ihr weniger Raum zugestanden wird, eigentlich spannender als die Hetero-Hauptgeschichte. Und man hat die 534 Seiten extrem schnell runtergelesen.

„Kingdoms of Smoke – Die Verschwörung von Brigant“
von Sally Green. Aus dem Englischen von Alexandra Ernst,
ab 14, dtv, München 2019

Was fehlt
Was Menschen betrifft, die trans sind, genderfluid oder sich jenseits von männlich und weiblich verorten, so sieht man von ihnen auch im Jugendbuch 2019 so gut wie nichts. Dabei setzen sich gerade Jugendliche verstärkt mit Gender und Identität auseinander. Auch Jugendliche, die sich selbst durchaus als weiblich oder männlich identifizieren. Auch sie haben Mitschüler, die trans sind oder nicht in das binäre System passen. Bus 57 ist Nachforschung, Aufklärung, Dokumentation eines realen Falles in Oakland, in dem Sasha, agender, Opfer des Jugendlichen Richard wird, der im Bus Sashas Rock anzündet. Ein wirklich besonderes Buch, das Sashas Entwicklung erzählt. Gleichzeitig wird Richards soziale Situation und seine schwere Bestrafung kritisch untersucht, ohne seine Tat und deren Folgen zu verharmlosen. Trotzdem, stellen Sie sich vor, Sie möchten einem Jugendlichen, der sich jenseits von männlich und weiblich definiert, ein Buch mitbringen, und in dem einzigen Buch, in dem ein sich als agender definierender Jugendlicher auftaucht, wird dieser angezündet. Nicht wirklich ein gutes Mitbringsel.

„Bus 57“ von Dashka Slater. Aus dem Amerikanischen von
Ann Lecker, ab 14, Loewe Verlag, Bindlach 2019

Bus 57 ist wichtig, aber es braucht erst mal andere Bücher, in denen non-binäre, genderfluide und Trans-Jugendliche nicht immer nur als Opfer auftreten. Vielleicht lohnt ein Blick auf die bei Jugendlichen extrem erfolgreiche Webserie Druck, die nicht nur vom Format her außergewöhnlich ist, sondern wirklich inklusiv erzählt. Jugendliche verschiedener Hautfarben und Religionen stehen hier genauso im Zentrum wie Jugendliche, die schwul oder trans sind. Das kommt an.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Fachzeitschrift für Kindermedien „Eselsohr“, Oktober-Ausgabe (Heft 10/2019). Herzlichen Dank an Kathrin Köller und Eselsohr.