BÜCHERORT / Lesekeller der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule

Bücher sind ein Schatz, den es zu heben gilt

Von Ilke S. Prick

Foto © Michael Wien

Autor*innen sitzen am Schreibtisch und denken sich wunderbare Geschichten aus. Illustrator*innen entwerfen dazu Welten mit Stift und Computer. Gemeinsam erschaffen sie Schätze, die Buchdeckel an Buchdeckel in Regalen geduldig darauf warten, dass jemand sie entdeckt. Manchmal warten diese Schätze dort sehr lange: in Bibliotheken, deren KJL-Abteilung schlecht frequentiert ist, in Schulen, die sich vor allem mit den Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur auf der sicheren Seite wähnen. Als ich zum ersten Mal eine Schreibwerkstatt im Lesekeller des Freizeitbereichs der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule in Kreuzberg geben sollte, war ich im Vorfeld sehr gespannt, welche Art von Buchregalen mich dort erwarten würde. Zum Lesen in den Keller gehen? Eine eigenartige Vorstellung … Nicht gerechnet hatte ich mit dem, was ich vorfand: keine verstaubte „pssst“-Bibliothekenstille, sondern begeisterte Grundschul-Leseratten und ein engagiertes Team an einem Ort, an dem Bücher gelebt und geliebt werden. Ich war entzückt!

Und auch jetzt, an einem tristen Winternachmittag acht Jahre und etliche Lesekeller-Schreibwerkstätten später, hat sich daran nichts geändert – weder an meiner Begeisterung, noch an der Lebendigkeit im Souterrain. Im Gegenteil. Als ich den großen Leseraum betrete, sind die Sofas besetzt von Kindern und Büchern. Gemeinsam werden Geschichten gelesen und besprochen – leise in der einen Ecke, etwas lautstärker in der anderen. Auf dem bunten Teppich, barsockig und ausgestreckt, versinken einzelne Nasen in Geschichten. Neugierig schweifen Blicke über die Regale, kleine Finger durchstöbern die thematisch geordneten Bücherkisten nach Lesefutter. Im hinteren Raum darf auch getobt werden, solange es eine moderate Lautstärke nicht überschreitet. 

„Wir wollen den Kindern so viel Freiraum geben und Kompetenzen vermitteln wie möglich“, sagt Bettina Braun, Gründerin des Lesekellers. Seit 2009 betreut die gelernte Buchhändlerin und Sozialpädagogin den Bibliotheksalltag. Sie organisiert Lesungen von Autor*innen und Schreibwerkstätten, lange Lesenächte und Bilderbuchkino, knüpft Kontakte zu anderen Bibliotheken, zu Verlagen und dem Buchhandel, berät Erzieher*innen und Lehrer*innen, denn die sind in puncto Kinder- und Jugendliteratur nicht immer auf dem neuesten Stand. Sie vernetzt, bildet weiter, begeistert kleine und große Menschen für gut geschriebene und gut illustrierte Geschichten. Unterstützt wird sie hierbei von Michael Wien und Claudia Öhlschläger. 

Wie schafft man es, Interesse für Bücher zu wecken, in einer Zeit, in der die Lesekapazität von Kindern und Jugendlichen in einigen Fällen die Länge einer WhatsApp-Nachricht nicht überschreitet? „Zum Beispiel mit Büchern, in denen auf hohem Niveau eine Verschränkung von Bild und Text stattfindet“, antwortet Bettina Braun. Schulen dies zu vermitteln und ihnen besonders solche Geschichten näher zu bringen, sei eine schwere Aufgabe, da dort Bilder in Kinder- und Jugendbüchern entweder gern ignoriert oder in die Rezeption nicht mit einbezogen würden. „Doch gerade mit solchen Büchern können auch Kinder erreicht werden, die in der neuen Medienwelt verhaftet sind“, erklärt sie. Leider seien aber Text und Grammatik im Bildungssystem wichtiger als Bilder, als die Fähigkeit, sich in eine Geschichte hineinzubegeben oder selbst eine Geschichte zu erfinden. „In der Schule geht es meist um richtig und falsch – und selten darum, die beste Lesestrategie für sich herauszufinden“, sagt Bettina Braun. „Dabei hat jeder eine andere Möglichkeit, gut lesen zu lernen. Nur wird darauf im Unterricht oft nicht eingegangen, weil alles angeglichen wird. Hier muss es eine Unterstützung geben, damit jeder für sich einen Weg finden kann, nicht nur kleine Sätze zu lesen, sondern ganze Texte – und sie dann auch zu verstehen.“ Dass der Lesekeller ein Ort ist, an dem Kinder diese Unterstützung finden, dokumentieren die Erfolge beim Wettbewerb „Berliner Schulbibliotheken des Jahres“, wo der Lesekeller 2011 und 2017 mit Sonderpreisen ausgezeichnet wurde, sowie die Nominierung für den Innovationspreis für Bibliotheken der Länder Berlin und Brandenburg 2019.

Foto © Ilke S. Prick

Mit einem wachsenden und differenzierten Angebot fördert das Team den Lesespaß und die Lesefähigkeit von Kindern auf immer neuen Wegen. 2015 initiierten Michael Wien und Claudia Öhlschläger im Lesekeller eine Lernwerkstatt zum Themenfeld Wort, Schrift, Kommunikation. In einem separaten Raum können Kinder nun mit unterschiedlichen Methoden und Materialien wie Sprachspielen, Druckwerkzeugen, Magnetbuchstaben und mechanischen Schreibmaschinen mit Buchstaben und Schrift experimentieren. Egal ob Blindenschrift, Geheimschrift, Spiegelschrift oder Kalligrafie – der Spaß am Umgang mit Wörtern und Sprache ist hier das Wichtigste, um einen kreativen Weg zum Schreiben und Lesen zu finden. Im Vormittagsbereich wird der Raum von den Jül-Klassen (Jahrgangsübergreifender Unterricht, Klassenstufe 1 – 3) genutzt, am Nachmittag steht er allen Kindern des Lesekellers offen. Und nicht ohne Stolz darf ich mich seit der Eröffnung des Raumes Namens- und Projekt-Patin nennen, denn seither teile ich offiziell den Namen meiner Internetpäsenz „Das Wortlabor“ mit der Wortlabor-Lernwerkstatt des Lesekellers.

Der Ansatz von kreativem Lernen hat auch die Schule überzeugt, und so ist der handlungsorientierte Literaturunterricht, den der Lesekeller konzipiert hat, seit dem Schuljahr 2018 / 2019 im Schulplan der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule fest verankert. Über mehrere Wochen setzen sich in diesem Rahmen Schüler*innen mit einem selbst gewählten Buch auseinander. Begleitet von je einem / einer Lehrenden und einer Person des Lesekellerteams können sie in Kleingruppen an drei nichtschulischen Orten – dem Lesekeller, dem Wortlabor und der Kulturküche (die umgebaute Schulküche) – eigene Ideen rund um „ihr“ Buch entwickeln. Alles, was Spaß macht, ist erlaubt: das Basteln von Stabfiguren für Kamishibais, das Erfinden eigener Geschichten und Illustrationen, von Stop-Motion-Filmen, Hörspielen, Theaterstücken. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die Ergebnisse werden schließlich am Ende des Projektes vor Publikum präsentiert. Ziel dieses spielerischen Ansatzes ist es, bei den Kindern Lesevergnügen zu wecken sowie Sprach- und Lesekompetenz zu entwickeln und zu stärken. Als Pilotprojekt startete der Literaturunterricht zunächst mit den Jül-Klassen und wird wegen der guten Resonanz ab diesem Schuljahr auch in den höheren Klassen angeboten.

„Genau so funktioniert Lese- und Literaturpädagogik. Sie soll Kompetenzen stärken und eine positive Erfahrung mit dem Lesen vermitteln. Also helfen, den Schatz zu heben, der in Büchern versteckt ist“, sagt Bettina Braun am Ende meines Lesekeller-Besuchs. „Darum finde ich Begriffe wie Leseförderung auch so schwierig. Es klingt, als gäbe es ein Defizit, das aufgefüllt werden muss. Man kann doch einem Kind keinen Trichter auf den Kopf setzen und ihm ein Buch einflößen. Aber man kann in ihm die Neugier und Leidenschaft für das Heben dieses Schatzes wecken.“ Und als sie es sagt, scheint mir, als sähe ich ein Glitzern zwischen den Buchdeckeln im Regal.