Null Sterne für die Sternchen

© Till Hülsemann

Von Salah Naoura

Zugegeben, mir läuft jedes Mal ein schadenfroher Schauer über den Rücken, wenn in der Sendung „Druckfrisch“ Literaturkritiker Denis Scheck ein von ihm verrissenes Buch die berüchtigte Rollrampe hinunterschickt und es schließlich in Großaufnahme im Papierkorb landet. Genial, denke ich, wenn ich seine Kritik nachvollziehen kann. Na ja, denke ich, wenn ich sie nicht nachvollziehen kann. Und als Letztes stelle ich mir immer vor, wie grauenvoll es wäre, wenn eins meiner Bücher über diese kalten, unbarmherzigen Stahlrollen rappeln und in die Tiefe stürzen müsste.

Verständlicher Gedanke, aber völlig falsch. Dankbar müssten wir KinderbuchautorInnen sein, wenn wir bei Herrn Scheck, dem Literarischen Quartett oder ähnlichen Sendungen überhaupt vorkämen – welch ein Ritterschlag wäre es und zugleich die öffentliche Bekanntmachung der wenig bekannten Tatsache, dass es sich bei Kinderliteratur um Literatur handelt, die als ebensolche erwähnens- und sogar besprechenswert ist. Aktuelle Kinderliteraturkritik, die sich auch an Erwachsene richtet, kommt in TV-Formaten schlicht nicht vor. Und aus den Feuilletons der Zeitungen wurden die Rezensionen neuer Kinderbuchtitel auf die Kinderseiten verbannt, als sei die Frage, was zeitgenösssische gute KJL ist, unter Erwachsenen kein Thema.

Kinderbuchkritik findet aktuell vor allem im Netz statt, auf einigen spezialisierten Blogs, vor allem aber als Reaktion von Kunden auf Verkaufsportalen und durch Teilnehmer sogenannter „Leserunden“, die bei Verlosungen Neuerscheinungen gewinnen können, um sie im Gegenzug dann zu bewerten. Worauf die Verlage hoffen und Kunden gucken, sind möglichst viele Sternchen. Sternchen sollen für uns KinderbuchautorInnen (und generell für das Gros der SchriftstellerInnen) heutzutage also das sein, was früher mal die Besprechung in einer Zeitung war. Sind sie aber nicht.

Zunächst mal muss man sich als Autor klarmachen, dass Rezensionen von Literaturkritikern und Beurteilungen von Kunden (in unserem Fall: Eltern) als Textsorten schlichtweg nicht derselben Gattung angehören. Kundenbewertungen beschäftigen sich selten mit literarischer Qualität, sondern meist mit den Sorgen von Eltern, was für negative Auswirkungen das bewertete Buch auf das Seelenheil oder Verhalten ihres Kindes haben könnte: Zu schwere Wörter könnten die jungen Leser überfordern, Flüche oder Schimpfwörter könnten übernommen werden, das Erwähnen von Waffen könnte Gewalt fördern, usw., usw. … Für uns AutorInnen ist es sicher interessant, all diese Überlegungen zu kennen. Aber derlei Bewertungen haben mit Literaturkritik nichts zu tun und sind erst recht kein Ersatz für echte Rezensionen von Kritikern, die einen Text und seine Qualitäten aus literarischer Sicht einordnen.

Jüngst hat Amazon sein Sternchen-System (wohl weil die Bewertungslust der Kunden deutlich nachgelassen hat) reformiert – angeblich, um das Bewertungssystem „gerechter“ zu machen und Fake-Bewertungen vorzubeugen. Ich als Autor kann an den Neuerungen keine Verbesserung feststellen, ganz im Gegenteil: Mussten Kunden sich früher wenigstens die Mühe machen, zu ihrer Sterne-Bewertung eine Rezension zu verfassen, können sie nun ganz ohne Angabe von Gründen und ohne ein Wort zu verlieren ungeniert Sternchen verteilen. Also kann ich nun sehen, dass irgendwer mein Buch gut, mittelprächtig oder schlecht fand, erfahre aber nichts darüber, weshalb. Und der nächste potenzielle Käufer auch nicht. Die großartige Neuerung heißt somit: viel mehr Sterne, sehr viel weniger Worte.

Brauchen wir solche unbegründeten Wertungen? Ich finde, nein. Weder wir Autoren noch die Kunden. Das amazonische Sternchen-System führt sich derzeit selbst ad absurdum und öffnet Tür und Tor für Manipulatoren, die anderen bewusst schaden wollen. Ich selber habe als Amazon-Kunde Rezensionen zu Büchern geschrieben und meine Wertung dabei jedes Mal begründet. Neulich habe ich sie allesamt gelöscht, weil ich nicht mehr Teil eines Bewertungssystems sein möchte, das inzwischen keinen Wert mehr auf Inhalte legt. Ich vergebe null Sterne für die Sternchen. Ich halte den inhaltsfreien Bewertungswahn für nutzlos, sogar schädlich. Was wir wirklich brauchen, ist endlich wieder echte Literaturkritik und einen öffentlich geführten kinderliterarischen Diskurs.