Von Claudia Kühn
Alles fing mit Emma an. Sie schenkte meiner Tochter zum 6. Geburtstag etwas ganz Besonderes: eine Geschichte. Eine Geschichte, die sie selbst geschrieben, gestaltet, illustriert und zu einem Buch gebunden hatte.
Emma erzählt von einer Katze, der ihr liebstes Spielzeug geklaut wird. Ihre Freundin hilft ihr, den Dieb zu stellen. Die Erzählung schließt mit einer Frage der Autorin an ihre Leser: „War das eine schöne Geschichte?“ Und das Buch endet mit einer direkten Ansprache an meine Tochter: „Ich finde dich nett. Ich hoffe, dass du das weißt.“
Die Ansprache zeigte Wirkung: die beiden Mädchen wurden enge Freundinnen. Damit hatte die Geschichte ihre Funktion erfüllt.
Emmas Frage nach der Qualität der Geschichte, also ihrer Ästhetik, beschäftigte mich.
Die Geschichte ist sehr kurz und einfach gebaut. Sie hat einen Anfang: Es war einmal eine kleine Katze, eine Mitte mit einem Wendepunkt: Zum Glück hatte die Maus eine kleine Freundin, und sie hat ein glückliches Ende: Die Maus nahm die Wolle. Es tritt ein geheimnisvoller, in der Nacht agierender Antagonist auf – der Dieb. Und es wird von einer ungewöhnlichen Freundschaft erzählt – der Freundschaft zwischen Katze und Maus, die eine Probe besteht. Emmas Geschichte hat alles, was eine gute Geschichte braucht. Sie ist perfekt!
Nach Emmas Erfolg interessierten sich auch die anderen Freundinnen meiner Tochter für das Geschichtenschreiben und zeigten mir stolz ihre Ergebnisse oder baten mich um Rat, wenn sie einmal nicht weiter wussten.
Gerade hatte ein Freund den Geschichtenladen auf der Kollwitzstraße eröffnet. Hier trafen wir uns dann regelmäßig zum Schreiben. Immer mehr Geschichten entstanden. Also gab ich – mit Unterstützung des Kulturamtes Pankow, dem Künstler ATAK und der Künstlerin Nadia Budde – das Buch Reisen Räuber Roboter mit zehn Geschichten und einem Gedicht von Kindern aus meinen Kursen heraus. Es wurde in der der JVA Tegel gedruckt, handgebunden und gestanzt und ist bis heute das Buch, das ich von allen meinen Büchern am meisten mag, obwohl ich darin nur eine Seite geschrieben habe.
Inzwischen betreue ich, neben meinen Schreibwerkstätten in Schulen, Museen und Bibliotheken, regelmäßig drei Gruppen: eine Gruppe Kinder, eine Gruppe Jugendlicher und eine Gruppe mit professionellen Autor*innen. Einmal im Jahr verleihe ich einen Preis für schreibende Kinder und Jugendliche, den ich vor zehn Jahren, gemeinsam mit der Georg Büchner Buchhandlung am Kollwitzplatz, ins Leben gerufen habe. In diesem Jahr wird die Verleihung am 1.11. im MACHmit! Museum für Kinder stattfinden, das Thema ist: Wunder.
Wir treffen uns auch in Zeiten von Corona regelmäßig, virtuell mit Zoom oder Skype. Trotzdem gab es in diesem Jahr viele Veränderungen. Die Kleinen sind groß geworden, sie haben die Grundschule verlassen. Und die Jugendlichen sind auf dem Sprung in die Welt. Wir haben mehr als einmal Abschied gefeiert, uns beschenkt und versprochen, in Verbindung zu bleiben. In den Jahren des gemeinsamen Schreibens ist zwischen uns allen etwas entstanden, was Geschichten können: Freundschaften stiften – auch über viele verschiedene Grenzen hinweg.
Vielleicht hat Emma ihr Geschenk inzwischen vergessen. Ich dagegen erzähle immer noch und immer wieder davon …
Das Buch mit den Geschichten kann man für eine Spende erwerben. Mit dem Geld unterstütze ich Kinder, deren Eltern sich den Kurs nicht leisten können. www.claudiakühn.de