Eine Spurensuche. Bianca Schaalburgs Graphic Novel „Der Duft der Kiefern“

Cover-Arbeitsskizze © Bianca Schaalburg

Von Salah Naoura

Sieben lange Jahre musste König Heinrich VIII warten, um seine Angebetete, die Hofdame Anne Boleyn, endlich ehelichen zu können, denn für die Scheidung von seiner ersten Frau benötigte er die Zustimmung der katholischen Kirche. Als der Heilige Vater sie ihm endgültig verweigerte, ernannte der verliebte König sich selbst zum Oberhaupt der Kirche von England, trennte sich von seiner Angetrauten – und schrieb damit Geschichte.

Als Schüler dachte ich, Geschichtsschreibung bestünde aus den Fakten, Zahlen und Daten, die von solch hohen Herrschaften und ihren Entscheidungen geschaffen würden. Und dass es ebendiesen Heinrichs, Napoleons und Evitas vorbehalten sei, ihre persönlichen Wünsche und Überzeugungen zu Historie werden zu lassen. Erst sehr viel später wurde mir klar, dass das Private eines jeden Einzelnen zu jedem Zeitpunkt in die Geschichte eingeht und man mit jeder Entscheidung, die man fällt, einen Teil zum Verlauf des Weltgeschehens beiträgt. König Heinrich VIII genauso wie Buchhalter Heinrich Schott, Bianca Schaalburgs Großvater.

Gebäude am Senefelder Platz, 1935 ein Altersheim,
2019 Luxuswohnungen. Da über das Aussehen von Clara
Hipp nichts bekannt ist, tritt sie als Silhouette auf.

Um dieses persönliche Beteiligtsein an Geschichte geht es in „Der Duft der Kiefern“, der Graphic Novel, an der Spreeautorin und -illustratorin Bianca Schaalburg derzeit arbeitet. Ihre Frage nach der Mitschuld der eigenen Familie an den Gräueltaten der Nazis macht die Handlung so direkt erfahrbar. Verstärkt wird diese Unmittelbarkeit durch den Kniff der Autorin, den gesamten Prozess ihrer Recherche, ihrer Befürchtungen und Zweifel konsequent mitzuerzählen. So rücken wir als Leser/Zuschauer noch dichter an das Geschehen heran und folgen der Ich-Erzählerin auf den verschlungenen Pfaden ihrer Detektivarbeit. Von der Geburt der Mutter, 1939, bis ins Jahr 1968, in dem sie selbst zur Welt kommt. Die ineinander verschränkten Zeitebenen sind durch die Farbgebung klar unterscheidbar – wie hier rechts die Ankunft zweier Personen am selben Ort, damals und heute.

Unterschiedlichste Stimmungen werden eingefangen und Lichteffekte eingesetzt. Frisuren, Mode, Architektur, Lokalkolorit und den Wandel der Alltagssprache – all das hat Bianca Schaalburg seit März 2018 recherchiert. Eines der zentralen Themen ist die Frage nach der Rolle von Großvater Heinrich, angeblich Buchhalter, der bei der Wehrmacht in Riga stationiert war.

Was hat er von dem Ghetto, dem KZ Kaiserwald und den Massenerschießungen in den Wäldern vor der Stadt gewusst, inwieweit war er beteiligt? Und warum saß er als Buchhalter auf einem Pferd, wie ein Foto belegt?

„Wir alle haben erlebt, wie die Großeltern nur durch starke Verdrängung mit ihrer Geschichte umgehen konnten“, sagt Bianca Schaalburg. „Wie die Eltern zu Hause nicht wagten, dies zu hinterfragen. Wie die Nazis immer die anderen waren. Die nationalsozialistische Vergangenheit einmal persönlich aufzuarbeiten, ist etwas anderes, als nur Zahlen in der Schule zu lernen und grausame Bilder zu sehen, zu denen sich aber keine persönliche Beziehung herstellen lässt. Außerdem schleicht sich in unsere Gesellschaft ein neuer Rassismus ein, unter dem Deckmantel des nationalen Selbstbewusstseins leiden Werte wie Toleranz und Freiheit. Dem muss man entgegenwirken – auch das Medium Comic ist geeignet.“

Porträt Alice Licht

Wir sind Zeugen, wie die Autorin und ihr erwachsener ältester Sohn im Berliner Landesarchiv Großvater Heinrichs Akte einsehen und auf seinen Spuren nach Riga reisen. Wie sie ihren 82-jährigen Onkel kontaktiert, der sich für sie erinnert und wertvolle Hinweise liefert, und wie sie Yermi Brenner trifft, den Enkel der Jüdin Alice Licht. Alice arbeitete in Otto Weidts Blindenwerkstatt und wurde von ihm im selben Haus versteckt, in dem Bianca Schaalburgs Urgroßeltern lebten. Sie müssen sich dort unweigerlich begegnet sein. Es sind diese privaten Momente, in denen uns die Geschichte besonders stark berührt und man als Leser und Betrachter zum Zeitreisenden wird.

Die Graphic Novel „Der Duft der Kiefern“ wird im September 2021 im avant-verlag (Berlin) erscheinen und, wie jetzt bereits bekanntgegeben wurde, mit einem der Finalistenpreise der Leibinger-Stiftung für das kommende Jahr prämiert.

Recherche-Schreibtisch © Bianca Schaalburg