Von Ilke S. Prick
„Ich verstehe, wenn Sie nicht zusagen, aber für die Kinder wäre es großartig!“ Nicht zum ersten Mal im letzten Herbst gab es innerhalb eines Satzes diesen Spagat. Auf der einen Seite die Kinder, auf der anderen ich, mit sämtlichen Corona-Mahnungen im Ohr. Dazwischen, im Telefonhörer, eine nette Bibliothekarin, die für Schulveranstaltungen noch Gelder hatte und den Enthusiasmus besaß, diese auch in Krisenzeiten auszuschütten. Sämtliche Kultur-Events waren bereits abgesagt, die Schulen hangelten sich durch Quarantäne-Szenarien und Ampelsysteme, doch waren hier Lesungen und Werkstätten noch möglich, da wir, die wir Kinderbücher schreiben und illustrieren, nicht nur als Kultur gelten, sondern auch pädagogisch sinnvoll eingesetzt werden können. Was sollte ich also machen?
Im Frühjahr während Lockdown 1 dachte ich: Prima, kann ich mich aufs Selberschreiben konzentrieren. Im Sommer aber merkte ich, dass es mir fehlt: das Geräusch, wenn 20 Stifte über Hefte flitzen. Der Stolz in den Augenpaaren mir gegenüber auf das, was dabei auf dem Papier landet und sooo lang geworden ist – und sooooo spannend. Wangen, die rot werden, wenn die anderen in der Klasse klatschen, weil sie es ebenso aufregend finden, was sie beim Vorlesen von Paul oder Amal hören. Oder von Joschi, der im Unterricht nie schreiben will, aber eine blühende Phantasie hat, die sich ihren Weg bahnt, wenn ich sage: „Mir ist wurscht, mit wie vielen s ihr „dass“ schreibt oder ob ihr Kommas setzt. Hauptsache, ich höre hinterher eine Geschichte.“
In einer Studie des Nationalen Bildungspanels (NEPS) ermittelten Bildungsforscher*innen jüngst, was Schüler*innen brauchen, um während des Lockdowns gut zu lernen. Neben der Bereitschaft, sich anzustrengen, ist es Lesekompetenz. Denn die Fähigkeit, Texte und Arbeitsanweisungen zu lesen und zu verstehen, ist beim Distanzunterricht zentral für alle Schulfächer. Das Internet erledigt Dinge nun mal nicht von selbst und es erklärt auch keine Textaufgaben. Wer gut liest, lernt auch zuhause leichter, so die Ergebnisse. Aber wie schafft man das: Lust an Sprache, am Lesen, am Schreiben zu wecken? Zum Beispiel durch Autor*innen …
Meine Angebote an Schulen mache ich, weil es mir Spaß macht und mir viel bedeutet, denn ich merke, was es besonders bei schreibscheuen Kindern auslöst, wenn eine lebende Autorin, die „richtige“ Bücher schreibt, zugibt, dass auch sie in der Schule keine 1 in Deutsch hatte. Dass Lesen, Schreiben, dass Sprache überhaupt trotzdem Spaß machen kann. Meine Werkstätten sehe ich als Freiraum für Kinder, für ihre Phantasie und Lust, mit Wörtern zu experimentieren. Ein Freiraum, der gerade in den letzten Monaten viel zu klein war. Ich komme von außen und bin nicht eingebunden in das Schulsystem. Ich werte nicht, ich gebe keine Noten. Stattdessen versuche ich zu vermitteln, was Worte bewirken – wenn man sie lesen kann. Wenn man sie selber schreibt. Und meist habe ich dabei das Gefühl, dass mir Kinder gegenübersitzen, die meine Anregungen begeistert aufnehmen und ihr Eigenes daraus machen, in einem Gedicht oder einer Geschichte. Die stolz sind auf das, was dabei entsteht. Die entdecken, dass sie etwas zu sagen, zu schreiben haben. Merken, dass ihre Worte Bedeutung bekommen. Vielleicht auch ein Gewicht.
Als der „Lockdown light“ beschlossen war, habe ich viele Gespräche geführt. Ist es verantwortbar, jetzt Präsenz-Veranstaltungen zu machen? Ist es Wahnsinn, wenn ich zusage? Eine unnötige Gefährdung? Die Meinungen waren geteilt und alle Argumente gut begründet. Ich entschied mich für die Veranstaltungen – mit FFP2-Maske und gebührendem Abstand.
In den Gruppen habe ich dann Kinder erlebt, die darauf bedacht waren, mich zu schützen, und von sich aus darauf achteten, dass alle in der Gruppe Masken trugen: „Damit Sie nicht krank werden!“ Jugendliche, die meine Schreibangebote aufsogen wie Schwämme. Die nicht nur anwesend waren, sondern wirklich da. Die trotz Durchzug in den Räumen die Zeit für sich und das Schreiben nutzten. Ich habe Respekt vorm Virus und auch Angst, mich oder meine Lieben anzustecken. Aber ich habe selten so viel berührendes Feedback bekommen wie bei diesen Werkstätten. Und als nach meiner letzten im Dezember eine Schülerin sagte, wie froh sie sei, dass ich den Mut hatte, trotz der Situation an die Schule zu kommen, wusste ich, dass meine Entscheidung nicht Wahnsinn, sondern eine gute und wichtige gewesen war.
Ja, vielleicht war ich mutig. Es bedurfte aber auch des Muts der verantwortlichen Lehrerinnen und des Lesekeller-Teams, die mit mir die Termine planten. Und ich bin froh über die Bibliothekarinnen und die Friedrich-Bödecker-Kreise in Berlin und Niedersachsen, die auch in diesen Zeiten Veranstaltungen finanzierten. Noch mehr würde ich mich allerdings freuen, wenn die Bedeutung solcher Veranstaltungen besonders für leseunwillige und schreibscheue Kinder und Jugendliche nicht vergessen wird, sobald der Schulbetrieb wieder geregelt läuft. Der Berliner Autorenlesefonds ist ein wunderbarer Ansatz dafür. Ein zusätzlicher Honorartopf für Schulwerkstätten, die aufwändiger zu planen und durchzuführen sind als Lesungen, könnte ein guter nächster Schritt sein. Senatsstipendien für Kinder- und Jugendbuch Schreibende noch ein weiterer. Wie gesagt: Wer gut liest, lernt auch zuhause leichter. Und dass Lesen Spaß macht, vermitteln wir wahnsinnig gern – mit und ohne Maske.