Für mehr Vielfalt im Kinderbuch

Letícia Milano (links) und Johanna Faltinat (rechts) © Hannah Strothmann

Spreeautorin Sandra Nenninger hat sich zum Tee mit Johanna und Letícia vom Büro für vielfältiges Erzählen getroffen und sich mit ihnen über Klischees, Diskriminierung und Rassismus in Kinderbüchern unterhalten. Rausgekommen ist dabei, dass es um viel mehr als Bücher und Geschichten geht: Es geht um gesellschaftliche Privilegien und um die Bereitschaft, den Blick kontinuierlich zu öffnen.

Habt ihr das Gefühl, dass sich im Kinderbuch/im Jugendbuch in der letzten Zeit etwas getan hat in puncto Vielfalt?

Johanna: Wir merken, dass im Kinder- und Jugendbuchbereich Bewegung ist. Wir merken es an Anfragen, an Publikationen und wie diese in der Kritik besprochen werden.
Letícia: Es gibt Bewegung auch auf Seiten der Eltern, die Kinder mit Behinderung haben oder die nicht weiß sind. Diese Eltern wollen Bücher haben, in denen sich ihre Kinder wiederfinden. So entstehen Buchhandlungen, die sich auf diverse Kinderbücher spezialisieren. Mütter beginnen zu schreiben, um ihre Realität zu zeigen. Das ist eine spannende Entwicklung.
Johanna: Bei Instagram gibt es viele Kanäle, die sich mit diesem Thema kritisch auseinandersetzen. Es ist ein großer Gewinn der sozialen Medien, dass dort diese Vernetzung stattfinden kann. Interessanterweise werden da Stimmen laut, die den Verlagen Angst machen, weil sie sogenannte Shitstorms auslösen können.

Worauf sollte eurer Meinung nach im Kinderbuch bzw. Jugendbuch besser geachtet werden, um unsere vielfältige Gesellschaft in Geschichten widerzuspiegeln?

Letícia: Es fehlt an Figuren, die nicht der Norm entsprechen. Die Süddeutsche Zeitung hat Anfang 2019 eine Studie gemacht: „Blaue Bücher, rosa Bücher“. Unter anderem wurde herausgefunden, dass Bücher für Jungs Themen wie Abenteuer, Reisen, Freundschaft, Insel, Magie behandeln, Bücher für Mädchen Alltag, Zuhause, Tiere, Ponyhof, Schulhof, Prinzessin. Der Handlungsspielraum ist allein hier so schmal – nicht nur für Mädchen, auch für Jungs. Ganz zu schweigen von Kindern of Color, mit Behinderung, usw.
Johanna: Es gibt Handlungsbedarf in zwei Feldern:
Erstens: Wer schreibt, und wer wird verlegt? Wer hat Zugänge, wie werden Talente gesucht, wie werden Talente gefördert? Diverse Stoffe kommen, wenn vielfältigere Personen eingebunden werden. Da geht es immer um Ressourcen.
Zweitens: Der Stoff ist entscheidend, und wenn es um Figuren mit Diskriminierungserfahrung geht, muss dieser Fakt nicht unbedingt Thema der Geschichte sein. Auch diese Figuren haben ein Leben, das für sie normal ist. Das wird häufig nicht erzählt. Es wird das erzählt, was anders ist. Diversität wird auch oft auf die Nebenfiguren abgewälzt.

Darf ein*e Autor*in ohne explizite Rassismus-Erfahrung darüber schreiben?

Letícia: Das kann nur die Person selbst entscheiden. Aber um etwas zu erzählen, was man nicht selbst erfahren hat, muss man Menschen zuhören, die diese Erfahrung machen. Das klingt selbstverständlich, doch in der Praxis überlässt man alles lieber der Fantasie. Zu dieser Frage stelle ich gern eine Gegenfrage: Darf ich als eine Autorin mit Migrationsgeschichte eine andere Geschichte erzählen als die der Migration?
Sandra: Ja, klar.
Letícia: Jeder würde mit ja antworten. Aber jetzt, wo so viel über Diversität gesprochen wird, werde ich tendenziell angefragt, um eine solche Migrationsgeschichte zu erzählen, da wird etwas vermischt. Sowohl ich als auch der Autor mit deutschem Hintergrund dürfen alles, wenn wir glauben, es zu können. Wir tragen aber beide eine Verantwortung dafür, wie wir unsere Geschichten erzählen. Es ist Teil des Deals.
Johanna: Trotzdem bleibt am Ende die Frage: Wer wird verlegt? Ich habe von folgenden Tendenzen in der Verlagswelt gehört: Wenn Verlage eine Hauptfigur mit Rassismuserfahrung oder Einwanderungsgeschichte in der Familie haben wollen, suchen sie nun verstärkt eine*n Autor*in mit eben dieser Identität. Ich glaube da wird zukünftig viel ausprobiert, und unterschiedliche Entscheidungen werden getroffen. Es wäre schön, wenn Leute aufgrund ihres Könnens, ihres Stils, ihrer Ideen angefragt würden.

Wieso ist die Autor*innenlandschaft im Kinderbuchbereich in Deutschland noch nicht vielfältig genug? Was kann man machen, damit sich das in Zukunft ändert?

Letícia: Die Verlage sagen häufig: Es gibt niemanden. Das ist die halbe Wahrheit. Es ist einerseits wahr, weil bestimmten Menschen der Zugang dazu nicht ermöglicht wird. Das sind strukturelle Probleme, die bereits in der Schule beginnen. Andererseits ist es so, dass die, die es schaffen zu schreiben, beispielsweise Autor*innen of Color oder mit Behinderung, sich untereinander vernetzen. Man muss also in anderen Becken fischen, wenn man diese Menschen einbinden will.
Johanna: Häufig wird das produziert, was schon bekannt ist. Was erfolgreich ist. Aber das es auch unterschiedliche Erzählstile gibt oder Einflüsse, wie eine Geschichte erzählt wird, muss ebenso einbezogen werden. Manche Autor*innen haben auch keine Lust, ihre Community/ihren Safe Space zu verlassen und zu einem Verlag zu gehen, wo sie vielleicht mit Lektor*innen und Marketing zu tun haben, die überhaupt nicht auf ihre Bedürfnisse eingehen, weil sie die nicht kennen. Es wäre wichtig, dass die gesamte Branche diskriminierungskritischer wird. Aber das ist hartes Training.

Was sind Fallstricke, die Autor*innen oder Verlage auf jeden Fall meiden sollten?

Johanna:
Vielleicht fangen wir mit den Wörtern an: Es gibt Wörter, die nicht gesagt werden sollten. Dafür gibt es wunderbare Glossars, beispielsweise von den Neuen Deutschen Medienmacher*innen. Es gibt im Netz auch gute und vielfältige Anleitungen zum Gendern.
Aktivist*innen, wie sie beispielsweise bei Leidmedien im Fall von Behinderungen oder bei queer media society zu finden sind, sorgen für mehr Sichtbarkeit und richtiges Wording in den Medien und sind Ansprechstellen für diversitätssensible Geschichten.
Letícia: Man kommt aber nicht umhin, sich selbst zu überprüfen: Will ich wirklich Menschen inkludieren? Will ich wirklich, das keiner verletzt wird, dass Diskriminierung nicht reproduziert wird in den Büchern, die ich herausgebe, die ich schreibe oder lektoriere? Hier reichen gute Absichten nicht aus. Ein Leitsatz in unseren Workshops ist: Nicht die Absicht zählt, sondern die Wirkung. Dieser Prozess ist anstrengend, teilweise schmerzvoll, das ist, wie wenn man nach zwei Jahren Corona wieder anfängt Sport zu machen. Aber wenn man jeden Tag trainiert, geht es irgendwann leichter.
Johanna: Dabei hilft es, jeden Tag eine Viertelstunde „Diversitätstraining“ in Form von Podcasts, Newslettern oder Instagramposts von Aktivist*innen mit anderen Perspektiven zu machen. Es ist auch sinnvoll, im Verlagsvertrag festzulegen, dass man ein sensitivity reading haben möchte. Auf so etwas kann ich als Autor*in bestehen. Wenn ich mehr Gesellschaft in meinen Büchern abbilden will, muss ich mich mit allen Facetten beschäftigen.
Letícia: Wie willst du auf diverse Geschichte kommen, wenn du diese Menschen nicht einmal mitkriegst in deinem Alltag? Du kannst nicht mit anderen Augen sehen, aber du kannst deine Perspektive erweitern.

Vielen Dank für das Gespräch!