Von Salah Naoura
2011 erschien mein Erstlesebuch „Nora und die Tigerinsel“ (Duden Lesedetekive, mit Illustrationen von Susanne Wechdorn), eine Geschichte, die ich immer ganz besonders mochte. Darin fährt ein weiße Familie in den Ferien ans Meer, in ein Land, wo „die Sonne heiß vom Himmel brennt“. Allerdings haben die Eltern und ihre Tochter Nora sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem tollen Urlaub. Nora will Schlangen, Tiger, Krokodile, Piraten … und vor allem andere Kinder. Die Eltern wollen am Strand rumliegen, und das Gefährlichste, erklären sie, was es in diesem Urlaub geben wird, sind Sandflöhe. Mannomann, findet Nora, wie langweilig!
Am Meer angekommen, sieht Nora (immer wenn die Eltern nicht dabei sind) hinten am Horizont eine Insel, und schließlich setzt sie auf dem Rücken einer Schildkröte über und stellt fest, dass man dort traumhafte Ferien verbringen kann! Im Insel-Urwald leben nicht nur Piraten, Tiger und Schlangen, sondern Nora trifft auch auf die wilde Lea, eine braunhäutige Version von Pippi Langstrumpf, die mit Piraten, Tigern und Schlangen umzugehen weiß, und wenn sie auf zwei Fingern pfeift, legen sich die Krokodile brav der Reihe nach in den Fluss und bilden eine Brücke.
Neulich bekam ich nun Post von einer Frau, die mir Rassismus vorwarf. Ihre Nichten und Neffen sähen nämlich eher so aus wie die wilde Lea, nicht wie Nora – denen könne man dieses Buch unmöglich vorlesen. Rassistisch? Ich? Niemals!, dachte ich und holte das längst vergriffene Buch aus dem Schrank. Auftritt wilde Lea:
Die Beschreibung der Lea-Figur bedient in der Tat rassistische Stereotypen, musste ich zugeben und staunte, denn als Sohn eines Syrers war ich selber häufig ausländerfeindlichen und auch rassistischen Repressalien ausgesetzt. In der Grundschulsprechstunde erfuhr mein Vater, dass ich trotz meiner guten Noten keine Gymnasialempfehlung brauchte, weil in unserem schönen Deutschland ja auch gute Handwerker vonnöten seien. (Handwerker wie mich braucht Deutschland ganz bestimmt nicht.) „Wann gehen Sie wieder zurück in Ihr Land? Bei Ihnen ist doch was mit drin?“, bekam ich als Erwachsener zu hören. Fazit: Selber diskriminiert zu werden, schützt offenbar nicht davor, dass man andere diskriminiert.
Die sprachlichen Entgleisungen in meinem Buch hätten sich leicht vermeiden lassen, was aber ist mit der Figur selbst? Kann und darf es heute eine wilde Lea überhaupt noch geben? Wie erzählt man eine solche Geschichte im Jahre 2020? Die wilde Lea ist ein starkes, unabhängiges Mädchen. Sie ist selbstbewusst und für Nora ein Vorbild. Und sie lebt allein im Urwald und berichtet, dass ihre Eltern in einer Großstadt mit Wolkenkratzern wohnen und sich bei ihren Besuchen auf der Insel nur bis zum Strand trauen. Kann eine Figur wie Lea nicht schwarze und weiße Kinder gleichermaßen begeistern?
Die wilde Lea ist ein Klischee, klar. Aber mit Klischees lässt sich wunderbar erzählen, weshalb ich sie in meinen Büchern häufig einsetze, um Komik zu erzeugen: der schweigsame Finne („Matti und Sami“), der Türkdeutsch sprechende Deutschtürke (Kungfuboy aus „Superflashboy und das Geheimnis von Shao-Shao“). All diesen Figuren ist gemein, dass sie liebenswert und positiv besetzt sind und das Negativklischee somit gebrochen wird. Was also ist mit diesem wilden, starken Mädchen mit der brauneren Haut? Die Diskussion darüber, wo Rassismus beginnt und wie wir heute erzählen sollten, ohne zu diskriminieren, beginnt gerade erst.
Die Spreeautoren-BloggerInnen verabschieden sich in die Sommerpause – wir melden uns mit neuen Beiträgen Anfang September zurück!
Lieber Salah, genau die Frage stellt sich mir auch gerade. Und noch ein paar mehr. Vor 10 Jahren veröffentlichte ich ein Buch mit einem schwarzen Mädchen, schwarz, die behauptete „ich hatte schon mit Löwen zu tun!“ „Kaugummi und Verflixungen“ . Klischee, wie ich merke. Das zwar nicht in dem ganz klassischen Sinne wilde aber eben sehr selbstbewusste und perspektivöffnende Mädchen sprach auch mit den Tieren. Wenn ich nun mein Figurenarsenal vielfältig gestalten möchte, (was ich natürlich aktuell immer schon, ohne groß über all das nachzudenken gemacht habe!) ecke ich nun mE mit jeder Lösung an. Und das kanns auch nicht sein. Zwar bin ich selbst nicht weiß, das schützt mich aber nicht vor Vowürfen und auch nicht vor Nachdenken. Also: folgendes Setting: Hauptfigur Junge der ein Problem hat, sagen wir Kontaktproblem. denke ich ihn schwarz, verankere ich möglicherweise mit Schwarz etwas problematisches. reicht es da, dass ich ihn positiv darstelle? Wenn ich stattdessen die Mutter schwarz denke, könnte der Vorwurf im Raum stehen, dass es nicht die Hauptfigur ist, und die nur die Nebenrollen schwarz werden. Wenn ich die in die Geschichte integrierte Fantasiemädchen schwarz denke, die eben tatsächlich mutig entschlossen freche und zugegeben wild ist, stehe ich bei deiner Frage. Die eine neue herausbringt: Denke ich dann vielleicht besser alle Figuren schwarz? herzlich aus Köln
Ich gehöre ebenfalls zu den Minderheiten, die seit Jahren in Deutschland leben. Ich bin allerdings kein Autor und habe mich mit dem Thema Rassismus kaum beschäftigt. Was mich doch zum Nachdenken gebracht hat, sind die Passagen in dem Buch und die Sorge des Autors, ob er durch seine Beschreibung rassistische Tendenzen gezeigt und die Seele einer Leserin verletzt hat.
Da ich nicht schnell eine Meinung vertreten möchte, bediene ich mich eines Artikels von Pia Seitler auf bento.de vom 3.06.2019 zu der Frage „Bin ich rassistisch?“ Um das herauszufinden, rief sie den Migrationsforscher Mark Terkessidis an.
Mark sagte: In der Psychologie werde häufig der Begriff Stereotypisierung verwendet, das bedeutet: Ich sehe eine Person oder eine Personengruppe und ordne ihr etwas zu. Zum Beispiel: Jungs mögen Fußball, oder Italiener sind modeverrückt oder Deutsche immer pünktlich. Dies geschieht, um effektiver und schneller zu arbeiten. Dies sei erst mal nicht tragisch, entscheidend sei, ob es Auswirkungen auf die Personengruppe habe, bei der ich das tue. Wenn sich die Stereotypisierung auf Gruppen beziehe, die diskriminiert würden, dann sei das rassistisch.
Meine Meinung:
In der Beschreibung von Lea lag weder die Absicht einer allgemeinen Bewertung oder eine Diskriminierung von Personengruppen vor. Wenn das so wäre, dann hätten wir nicht das Dschungelbuch und nicht die tollen Illustrationen arabischer Jungs in der Wüste auf ihren Kamelen.
Letzte Bemerkung:
Wir als Minderheit sollten mehr Toleranz besitzen als das, was wir von den anderen erwarten.