Von Andrea Schomburg
Die Dichterin aber, bis viertel vor vier,
bis sich der Tag schon fast lichtet,
sitzt aufrecht im Bett im Nachtgewand
und dichtet.
So stellt man sich das vor, was nach dem Musenkuss geschieht, der ja jederzeit erfolgen kann. „Sie schütteln diese Gedichte doch bestimmt einfach so aus dem Ärmel, oder?“ Bisweilen ja. Bisweilen entsteht ein fertiger Bilderbuchtext auf Zuruf des Verlags („Die Programmleitung meint, es wäre doch nett, mal was über ein schlafloses Schaf zu machen …“), zwischen Frankfurt und Hamburg. Oder die fehlenden sechs Strophen, die aus einem Kurzgedicht über die kulinarischen Präferenzen von Monstern einen vollständigen Bilderbuchtext machen, zwischen Berlin und Hamburg.
Meistens aber nicht. Besonders dann nicht, wenn ein Abenteuerbuch von fast hundert Seiten in Reimen entstehen soll („Winkel, Wankel, Weihnachtswichte, 24 Reimgeschichten“, Hummelburg 2020), oder wenn es gilt, eine ganze Sammlung von Gedichten und Geschichten zu verfassen.
Meistens setzt sich die Dichterin Schomburg, wie alle Werktätigen, morgens auf ihren Dichterpo und geht ans Werk. Manchmal läuft es ratz-fatz, rubbel-die-Katz. Manchmal aber auch nicht. Weil ich ja gern so gut, so originell, so lustig und schön wie möglich schreiben möchte. Weil ich möglichst nicht Herz auf Schmerz und Mädchen auf Städtchen reimen will. Weil ich normalerweise sofort höre, wenn der Rhythmus klappert und dass dies mit einem Füllwort schnell behoben wäre. Dass genau dieses Füllwort aber hier keinen rechten Sinn macht und es außerdem schon zwei Zeilen vorher auftaucht. Meistens dauert es ziemlich lange, bis ich zufrieden bin. Vielleicht, weil ich als Kind und Jugendliche immer drinnen gehockt („Kind, geh doch mal an die frische Luft!“) und so furchtbar viele Gedichte gelesen habe. Und so, möglicherweise, etwas wie einen inneren Kriterienkatalog oder ein intrinsisches Qualitätsprüfungsinstitut entwickelt habe. Wer weiß …
Was nun aber den inneren (oder äußeren) Kriterienkatalog bei manchen Kinderbuchverlagen betrifft, so fällt schon auf, dass man in Bilderbüchern zwar einerseits geradezu göttliche Texte findet, bei denen ich mich nach dem Lesen missmutig frage, wieso, verdammt, das eigentlich nicht mir eingefallen ist. Andererseits aber stößt man immer wieder auf gereimte Texte, bei denen durchaus noch Luft nach oben ist. Liegt es möglicherweise daran, dass, wie Uwe-Michael Gutzschhahn in dem Eselsohr-Artikel „Ist das mit der Reimerei / Verlagen manchmal einerlei?!“ (Eselsohr Januar 2021) vermutet, „ … über viele Jahrzehnte zu wenig mit lyrischen Formen gearbeitet …“ wurde? Die Folge, so Gutzschhahn: „ … viele Leute merken es gar nicht mehr, dass da irgendwo die Metrik nicht stimmt.“ Oder kann es daran liegen, dass, irgendwo und unterschwellig, die Ansicht herumgeistert, das Zweitbeste sei schon gut genug für die Kinder und es merke ja sowieso keiner? Oder werden lyrische Texte für Kinder manchmal gar nicht als Kunst, als bewusst gestaltete Entitäten betrachtet, sondern als so etwas wie Zeilenlieferanten zwischen den Bildern?
Wie soll ich es mir sonst erklären, wenn nach einem abgeschlossenen umfassenden Lektorat, in der Produktionsphase der Druckfahnen, die Bitte formuliert wird, aus Gründen des Layouts doch netterweise zwischen zwei und zwanzig Zeilen zu den angegebenen Gedichten hinzuzufügen? Oder eine Instanz namens „Korrektor“ in Unkenntnis des Stilmittels des narrativen Präsens alle „nicht passenden“ Präsensformen ins Imperfekt setzt, mit den erwartbaren Folgen für die Rhythmik …? Man kann solche Vorschläge ja höflich zurückweisen. Zum Glück. Sie bilden die absolute Ausnahme und haben ja auch ihren Wert, weil sie, wenn der Ärger verflogen ist, amüsante Anekdoten auf Buchmessenpartys abgeben, die hoffentlich irgendwann wieder stattfinden werden.
Vor allem aber bringen sie mir zum Bewusstsein, wie phänomenal gut es mir normalerweise geht mit meinen Verlagen und meinen Lektorinnen und Lektoren, denen ich an dieser Stelle ganz herzlich danken möchte für die wunderbare Zusammenarbeit auf Augenhöhe und für ihr – auch und gerade im lyrischen Bereich! – jederzeit kompetentes, konstruktives Lektorat. Ich habe das immer sehr gewertschätzt, aber ich dachte, das sei überall so. Das ist es anscheinend nicht. Jetzt, wo ich das weiß, wird mir Verschiedenes klar. Nicht zuletzt eben die Defizite mancher gereimter Bilderbuchtexte.
Und / aber das Publikum? Das gern so manches kauft, ohne Rücksicht auf Qualität? Vielleicht ohne Auge für Qualität? Ja, dann, hochverehrtes Publikum … Dann schreiben wir alle natürlich trotzdem weiter, so schön wir nur können, bis unser innerer Lektor zufrieden ist. Denn wie sagte Winnetou vor seinem Tod, als Old Shatterhand ihm riet, sich nicht in die Gefahr des Kampfes zu begeben, es werde ja niemand wissen? „Winnetou“, sagte er, „Winnetou wird es wissen.“
Wunderbare Ausführungen zu einem fürwahr wichtigem Thema.
Danke Andrea