Kann ich helfen?

Foto © Dietmar Lilienthal

Text und Bilder von Karsten Teich

Du begegnest in dieser Geschichte moderner Architektur, meinem „Krafttier“, einer russischen Raumsonde, einer Klobürste und einem osmanischen Krummsäbel. Es wird Blut fließen, aber leider kein Kaffee.

9:57
Ich stehe seit einer Dreiviertelstunde vor der Zweigstelle der Bibliothek und drücke mein Gesicht gegen die Vollverglasung der Tür. Links und rechts von mir ist ebenfalls alles aus Glas. Ich habe uneingeschränkte Sicht nach innen, auf die Frau mit der Handtasche. Sie hat zweifellos ebenfalls freie Sicht zu mir nach draußen. Ich kann sehen, dass sie mich sieht. Trotzdem läßt sie mich nicht rein. 

Ich habe gelesen, dass Orte wie dieser einladend wirken sollen. Die moderne Bibliothek ist ein Ort „barrierefreier“ Begegnung und des Austauschs. Die Architektur will es so. Alles ist Licht. Hier gibt es keine Schatten.

9:59
Die Frau mit der Handtasche trägt ein Heißgetränk an mir vorbei. Ich suche ihren Blick, aber sie nicht meinen. Wenn das der Architekt wüsste!
Ich bin verunsichert, halte Ausschau nach einem Schild, das ich vielleicht übersehen habe: „Autoren verboten“ oder so. Da ist aber nur ein Verbotsschild für Hunde.

Die Frau taxiert mich feindselig über den Rand ihrer Tasse. Dann schaut sie auf ihr Handgelenk. Ich höre mich ungeduldig winseln. Na, toll! Klingt so mein Krafttier für diesen Tag? Nach Hund? Ich stelle die Ohren auf und tänzele ungeduldig von einer Pfote auf die andere.
Ich belle. Mein Gott! Habe ich das wirklich gemacht?! Ich bin Autor und Illustrator! Ich bin hier, weil ich Kindern etwas vorlesen und -zeichnen soll. Ich bin eingeladen!!!

10:00
Die Frau seufzt.
Ihre Schultern heben sich und fallen dann abrupt wieder nach unten. Sie rafft sich auf , wirft ihr Haar nach hinten und kommt mit flotten Schritten zur Tür. Auf ihrer großgemusterten Bluse (Stechpalme trifft Hermès-Hufeisen), springt eine rote Korallenkette auf und ab. An der Tür holt die Frau einen Schlüssel mit Diddl-Maus-Anhänger aus ihrer Handtasche. Ich hechele, zeige ein offenes Gesicht. Ich werde sie nicht beißen.
Ich bin ein Autor.

10:04
„Sie kommen zurecht“, stellt die Frau klar und pflanzt sich hinter die Ausleihe.
Ich wittere Schwierigkeiten.
Mein Krafttier, ich fühle es deutlich, ist heute nicht der Grizzly. Ich horche in mich.
Nein, da ist wirklich nur der Hund. Ein Familienhund. Ich lass ihn von der Leine. Schnüffelnd erkundet er die Regalreihen.
„Wo soll ich lesen?“, frage ich.
Die Frau hält sich wieder ihr Heißgetränk vor die Nase. „Da hinten“, spricht sie in den Becher und winkt zu den Regalen. Ich gehe, wie gewunken. Mein Krafttier läuft voraus. Als der Hund anschlägt, hebe ich den Blick und stehe vor einem Berg aus Stühlen.
„Lassie, hol Hilfe!“, raune ich dem Hund zu.
„Bin ich bei den Stühlen richtig?“, rufe ich nach vorn.
„Räumen Sie einfach etwas um“, kommt es vom Tresen. Und nach einem Schlürfen: „Wenn Sie mehr Platz brauchen, schieben Sie die Regale zur Seite. Die haben Rollen.“
Ich flüstere: „Lassie, fass!“

10:21
Ich habe den Berg abgetragen und eine Leseecke gestaltet. „Und?“, frage ich mein Krafttier.

Der Hund legt den Kopf schief. „Atmosphäre is‘ um den Erdball“, bügele ich die Kritik ab und wünsche das Tier an Bord einer russischen Raumsonde.

Überhaupt werde ich jetzt nach vorn gehen und der Frau erklären, dass das Getränk in ihrer Tasse Kaffee heißt und dass man ihm eine stärkende und belebende Wirkung nachsagt.

Ferner, dass die Osmanen in ihrer Gastfreundschaft sogar so weit gingen, ihren Feinden ein Tässchen davon anzubieten, bevor sie ihnen mit Krummsäbeln die Köpfe abschlugen!

Aber erst kraule ich noch mal das Krafttier. Vielleicht kann ich den Grizzly wecken.
Kurz darauf  stehe ich am Tresen und frage brav nach dem Zubehör, das ich bestellt hatte. „Steht alles bereit“, sagt die Frau zwischen zwei Schlucken aus ihrer Tasse. „In der Personal-Toilette.“

10:35
In der Personal-Toilette wiege ich kurz die Klobürste in der Faust, verwerfe aber die Gewaltphantasie. Stattdessen nimmt mein Krafttier einen großen Schluck aus der Kloschüssel.
Verstimmt zerre ich drei schwere Kartons in die Leseecke. Ich bin aufgewühlt, kann mich kaum noch konzentrieren. Zum einen verwandelt sich der Hund immer wieder für Sekundenbruchteile in einen schwarzen Rottweiler. Zum anderen arbeite ich gedanklich eine Liste von Entschuldigungen ab, die die Frau für ihr Verhalten haben könnte.
Es geht mir erst besser, als ich zu dem Schluss komme, dass die Frau sich pausenlos ihre Tasse vors Gesicht hält, um eine Missbildung zu verbergen. Ich habe Mitleid. Damit kann ich arbeiten.
„Gibt es am Tresen etwas, womit ich die Pakete öffnen kann?“, rufe ich nach vorn und hoffe versöhnlich zu klingen.
„Wir sind ’ne Bibliothek und kein Baumarkt!“, kommt es vom Tresen.

10:45
Zwei ausgerenkte Finger später stelle ich fest, dass es sich bei dem Flipchart um einen Bausatz handelt. Mein Krafttier leckt mir die geballte Faust.
Als ich feststelle, dass die Anleitung fehlt, vergrabe ich mein Gesicht im Nackenfell des Hundes und fange an zu weinen.

10:50
Ich schrecke auf, als die Frau mit der Handtasche um die Ecke schießt. „Sind Sie endlich so weit?“, zischt sie mich an. „Ich kann die Kinder nicht länger draußen warten lassen!“ Ich weiß es besser, sage aber nichts.

Sie hält inne und schaut sich um. Ich muss wohl ein Bild des Jammers abgeben. Mit roten Augen und zerwühlten Haaren sitze ich zwischen zerrissenen Kartons und knete nervös meine Hemdzipfel.

Die Frau reicht mir ein Kleenex aus ihrer Handtasche. „Kann ich helfen?“, fragt sie schließlich.

Epilog
Die Veranstaltung fing spät an, war aber ein Erfolg. Nur zum Ende ereignete sich ein kleiner Unfall. Ein Junge lief in eine Regalwand und wurde von herabfallenden Büchern verletzt. Das Kind schwor blutend und unter Tränen, das Regal habe letzte Woche noch nicht dort gestanden.