Wie ich dieses Jahr zum Online-Vorleser wurde


© Susanne T. Müller

Von Martin Muser

2019 war für mich beruflich gesehen ein tolles Jahr. Zwei Kinderbuchveröffentlichungen, viele Anfragen für Lesungen, Festivaltouren kreuz und quer durch Deutschland. 2020 sollte es so weitergehen, dann kam Corona. Nach meiner letzten Lesung Ende Januar bröckelte Stück für Stück alles weg: Bibliotheken, Schulen, Festivals … Im Juni wollte ich eine Buchpremiere feiern, und auf der Leipziger Buchmesse sollte ich zum Lesekünstler des Jahres gekürt werden … alles perdu. Stattdessen bekam ich Anfragen für Online-Lesungen, die erste Mitte März von meinem Verlag (Carlsen). Zehn Minuten reichen, bitte Querformat und halbnah in die Kamera. Ich setzte mich vor mein Smartphone und nahm mich auf. Erst zu zappelig, dann zu onkelhaft. Nach fünf Takes verschickte ich zehn Minuten, die mir passabel erschienen. Heute fällt es mir schwer, die Lesung anzuschauen. Reichweite? 994 Abrufe und 14 Likes.

Die nächste Leseanfrage kam gleich hinterher: Initiiert von Kirsten Boie, NDR, SWR und den Verlagen sollten Kinderbuchautor*innen für die im Lockdown festsitzenden Kinder lesen. Die Einladung erschien mir wie ein Ritterschlag. Doch die Aussicht, dass das Ganze live sein sollte, verursachte Schweißausbrüche und Herzrasen. Hinzu kam, dass ich die nötige Technik selber organisieren musste (war ja Lockdown). Ich lieh mir das besonders leistungsfähige Notebook meiner Tochter, ein extralanges LAN-Kabel, verband alles mit dem Router und bastelte mir im Wohnzimmer ein Studio zusammen. (Untersicht vermeiden! Weiches Licht!)

Ankündigung der ersten Online-Lesung © Martin Muser, SWR/NDR
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Geschichten schaffen Freundschaften. Über Schreibgruppen

© Kai Hafemeister

Von Claudia Kühn

Alles fing mit Emma an. Sie schenkte meiner Tochter zum 6. Geburtstag etwas ganz Besonderes: eine Geschichte. Eine Geschichte, die sie selbst geschrieben, gestaltet, illustriert und zu einem Buch gebunden hatte.

Emma erzählt von einer Katze, der ihr liebstes Spielzeug geklaut wird. Ihre Freundin hilft ihr, den Dieb zu stellen. Die Erzählung schließt mit einer Frage der Autorin an ihre Leser: „War das eine schöne Geschichte?“ Und das Buch endet mit einer direkten Ansprache an meine Tochter: „Ich finde dich nett. Ich hoffe, dass du das weißt.“

Die Ansprache zeigte Wirkung: die beiden Mädchen wurden enge Freundinnen. Damit hatte die Geschichte ihre Funktion erfüllt.

Emmas Frage nach der Qualität der Geschichte, also ihrer Ästhetik, beschäftigte mich.

Die Geschichte ist sehr kurz und einfach gebaut. Sie hat einen Anfang: Es war einmal eine kleine Katze, eine Mitte mit einem Wendepunkt: Zum Glück hatte die Maus eine kleine Freundin, und sie hat ein glückliches Ende: Die Maus nahm die Wolle. Es tritt ein geheimnisvoller, in der Nacht agierender Antagonist auf – der Dieb. Und es wird von einer ungewöhnlichen Freundschaft erzählt – der Freundschaft zwischen Katze und Maus, die eine Probe besteht. Emmas Geschichte hat alles, was eine gute Geschichte braucht. Sie ist perfekt!

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Die 10 häufigsten AutorInnen-Ärgernisse

© Till Hülsemann

Von Salah Naoura

Als ich Anfang der Neunzigerjahre im Lektorat eines Kinderbuchverlages zu arbeiten begann, nahm mich dort gleich in den ersten Tagen eine sehr nette, ältere, erfahrene Chefsekretärin beiseite und sagte: „Herr Naoura, denken Sie an die Freiberufler, die Übersetzer, Illustratoren und Autoren. Die brauchen ihr Geld und ihre Verträge. Diese beiden Dinge dürfen Sie also nie auf die lange Bank schieben.“ Ein guter Tipp. Heute bin ich selber Freiberufler und fluche nicht selten darüber, dass es solche erfahrenen Chefsekretärinnen, die freundlich an uns denken, in vielen Verlagen nicht mehr zu geben scheint. Mit welchem Kollegen oder welcher Kollegin auch immer man sich austauscht, immer gleichen sich die Probleme, die wir haben. Höchste Zeit daher, die
10 häufigsten AutorInnen-Ärgernisse mal öffentlich zur Diskussion zu stellen:

1.) „Der Vertrag muss noch unterschrieben werden und kommt dann demnächst …“

Diejenigen Verlagsmitarbeiter, die einen Vertrag unterschreiben könnten, sind immer gerade im Urlaub, weshalb wir mit der Arbeit ruhig schon mal beginnen sollen. Oft tun wir es und bekommen den Vertrag dann irgendwann nach Abgabe oder Erscheinen. Und irgendwann danach auch schon den Vorschuss …

2.) „Honorare können wir leider erst nach Vertragsunterzeichnung auszahlen …“

Manche Verlagsleute glauben nicht, dass Menschen, die frei arbeiten, in dieser Zeit Geld benötigen. Eine Programmleiterin wunderte sich über einen Autor, der ohne Vertrag und Vorschuss nicht beginnen wollte. Freiberufler müssten mit zuvor verdientem Geld das gerade laufende Projekt vorfinanzieren, erklärte sie ihm. Vorkasse gäbe es in keiner anderen (ihr bekannten) Branche. Sie selber bekomme ihr Gehalt ja auch immer erst am Monatsende.

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Mit Ohrenbär fing alles an

© Andreas Eisenhart

Von Sabine Ludwig

Nun, das stimmt nicht so ganz, denn natürlich begann meine enge Beziehung zum Radio sehr viel früher. Als Kind war unser Radio für mich ein Zauberkasten. Lange war ich davon überzeugt, dass darin winzige Menschen steckten, die sprachen, sangen, musizierten. So wie das Engelsorchester auf Opas Weihnachtspyramide stellte ich mir auch das Orchester im Radio vor. (Allerdings ging ich nicht davon aus, dass der Pianist mit nacktem Hintern vor dem Flügel saß wie der Holzengel aus dem Erzgebirge.) Jeden Sonntagmorgen Punkt zehn ertönte: „Der Onkel Tobias vom RIAS ist da!“ Einmal im Monat gab es ein Hörspiel, ein Kasperlestück, das ich liebte, an den anderen Sonntagen waren die RIAS-Kinder bei Onkel Tobias zu Gast und erzählten oder sangen irgendwas. Ich fand es öde und bin bis heute davon überzeugt, dass Kinder das, was Gleichaltrige machen oder sagen, selten interessant finden. (Das glauben vielleicht Programmverantwortliche, weil es so schön billig ist, Kindern ein Mikro vor die Nase zu halten.) Nein, Kinder wollen Geschichten hören, gern auch die der Erwachsenen. Ich erinnere mich, wie ich so tat, als schliefe ich, wenn die reißerische Erkennungsmelodie von „Es geschah in Berlin“ ertönte, damit meine Eltern bloß nicht auf die Idee kamen, das Radio abzustellen. Verstanden habe ich kaum etwas, genossen habe ich es trotzdem.

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Rassistisch? Ich? Niemals!

© Till Hülsemann

Von Salah Naoura

2011 erschien mein Erstlesebuch „Nora und die Tigerinsel“ (Duden Lesedetekive, mit Illustrationen von Susanne Wechdorn), eine Geschichte, die ich immer ganz besonders mochte. Darin fährt ein weiße Familie in den Ferien ans Meer, in ein Land, wo „die Sonne heiß vom Himmel brennt“. Allerdings haben die Eltern und ihre Tochter Nora sehr unterschiedliche Vorstellungen von einem tollen Urlaub. Nora will Schlangen, Tiger, Krokodile, Piraten … und vor allem andere Kinder. Die Eltern wollen am Strand rumliegen, und das Gefährlichste, erklären sie, was es in diesem Urlaub geben wird, sind Sandflöhe. Mannomann, findet Nora, wie langweilig!

Am Meer angekommen, sieht Nora (immer wenn die Eltern nicht dabei sind) hinten am Horizont eine Insel, und schließlich setzt sie auf dem Rücken einer Schildkröte über und stellt fest, dass man dort traumhafte Ferien verbringen kann! Im Insel-Urwald leben nicht nur Piraten, Tiger und Schlangen, sondern Nora trifft auch auf die wilde Lea, eine braunhäutige Version von Pippi Langstrumpf, die mit Piraten, Tigern und Schlangen umzugehen weiß, und wenn sie auf zwei Fingern pfeift, legen sich die Krokodile brav der Reihe nach in den Fluss und bilden eine Brücke.

Neulich bekam ich nun Post von einer Frau, die mir Rassismus vorwarf. Ihre Nichten und Neffen sähen nämlich eher so aus wie die wilde Lea, nicht wie Nora – denen könne man dieses Buch unmöglich vorlesen. Rassistisch? Ich? Niemals!, dachte ich und holte das längst vergriffene Buch aus dem Schrank. Auftritt wilde Lea:

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